Ich sitze fassungslos vor einem seitenlangen Zeitungsartikel, der ein Zeugnis jüdischer Realität in Deutschland sein soll, aber in Wirklichkeit vor allem eines ist: kulturelle Aneignung. Konversion muss keine schwierige Angelegenheit sein, aber sie wird zum Problem, wenn Menschen Erfahrungen als ihre Ausgeben, die nicht ihre sind und darauf ihre Karriere aufbauen. Wenn sie nicht transparent machen, aus welcher Perspektive heraus sie schreiben und klagen. Konvertierte Jüd_innen sind Jüd_innen. Es geht mir nicht darum, das in Frage zu stellen.
Und wenn ich von Konvertit*innen schreibe, dann meine ich sowieso nie jene Jüd_innen, die einen Giur machen mussten, weil aus halachischer Sicht das falsche Elternteil jüdisch ist oder Dokumente zum Überleben vernichtet wurden. Ich meine Menschen, die aus einem wc-deutschen Familienhintergrund zum Judentum konvertieren. Es ist kein Geheimnis, das an vielen jüdischen Schlüsselpositionen Konvertit*innen sitzen und es ließen sich bändeweise Analysen darüber schreiben, warum dem wohl so ist. Richtig Rachel Dolezal-esk wird es aber, wenn Konvertit*innen extrem laut und vehement in der Öffentlichkeit auftreten, ohne transparent zu machen, dass sie Konvertit*innen sind. Wenn sie über die Erfahrungen von Jüd_innen 3. Generation oder der Armut von Jüd_innen aus der ehemaligen Sowjetunion sprechen, als seien sie selbst davon betroffen. Wenn sie sich Erfahrungen aneignen, die nicht ihre sind, um öffentlich zu sprechen und zu schreiben, ohne auch nur einmal zu erwähnen, dass es sich nicht um die eigenen Erfahrungen handelt.
Verbalisiert man diese Kritik passiert etwas sehr schnell: Empörung. Es stehe niemanden zu die Konversion von anderen zu thematisieren, das sei privat. Warum hätten Konvertit*innen weniger Recht über jüdische Erfahrungen zu sprechen als andere? Zwei wichtige Punkte. Zum ersten: Konversion zu thematisieren ist immer nur dann tabu und privat in diesem Land, wenn es um wc-Deutsche geht. Jüd_innen werden unverhohlen gefragt, welches Elternteil jüdisch ist und wenn es der Vater ist, ob sie denn wenigsten konvertiert seien. Das Jüdisch-Sein von Jüd_innen wird lang und breit von wc-Deutschen, wie Jüd_innen diskutiert. Ein Beispiel ist die ganze Debatte um Max Czollek. Hier kennen wc-Deutschen kein Tabu. Hier ist nichts privat! Geht es aber um ihresgleichen, werden vor allem wc-Deutsche plötzlich ganz empört. Da wird alles ganz intim und unverschämt – richtig anmaßend. Und ja, ich schreibe „ihresgleichen“, weil der Unterschied zwischen wc-Deutschen Konvertit*innen und wc-Deutschen ist vor allem (Selbst-)Definition und nicht primär Erfahrung. Es fallen Worte wie „Outing“ und hier wird es besonders grotesk: Jemanden als Konvertit*in zu „Outen“ widerspricht jeder Logik von gesellschaftlichen Verhältnissen. Fremdoutings als Teil einer marginalisierten Gruppe (z.B. als Lesben, Schwule, Queers, Behinderte) ist mit Gewalt und Diskriminierung verbunden. Outing geht nur aus der Marginalisierung heraus. Transparenz bezüglich einer herrschaftsdominanten Perspektive ist kein Outing. Es ist Accountability! Jüd_innen als solche zu outen ist ein Problem. Eine Position, die ungebrochen in deutscher Dominanzkultur sozialisiert wurde/ aufgewachsen ist, sichtbar zu machen NICHT.
Zur zweiten Frage: Warum hätten Konvertit*innen weniger Recht über jüdische Erfahrungen zu sprechen als andere? Haben sie nicht. Sie haben das Recht über ihre spezifischen Erfahrungen zu sprechen. Wir alle machen explizit oder implizit unsere jüdischen Perspektiven sichtbar. Weil wir als säkulare, religiöse, deutsche, post-sowjetische, aschkenasische, sephardische, mizrachische Jüd_innen unsere unterschiedlichen Perspektiven haben. Viele von uns benennen diese auch ausdrücklich. Gerade weil wir sichtbar machen möchten, dass wir nicht für alle Jüd_innen sprechen können, sondern dass wir eine spezifische Realität, nämliche unsere spiegeln. Konvertit*innen vermitteln einen generalistischen Anspruch, wenn sie ihre jüdische Perspektive als Konvertit*innen nicht sichtbar machen. Konversion ist eine spezifische jüdische Realität. Eine die mit vielen jüdischen Erfahrungen eben NICHT einhergeht. Das macht sie nicht weniger jüdisch. So zu tun, als wären Realitäten wie intergenerationales Trauma, Altersarmut von sogenannten „Kontis“, Antisemitismus in der Schule etc. eigene Erfahrungen ist keine jüdische Sichtbarkeit. Es ist kulturelle Aneignung. Es ist Instrumentalisierung jüdischer Erfahrungen und der eignen Konversion. Besonders, wenn mit diesen Narrativen eine Karriere aufgebaut, Vereine gegründet werden „um das Judentum besser zu machen“ und lautstark Debatten geführt werden.
Es gibt aber noch ein weiteres Problem, denn natürlich ist es kein Zufall, dass diesen Menschen besonders gerne zugehört wird. Weil nicht-jüdische Zuhörer*innen und Leser*innen keine Transferleistungen erbringen müssen. Was sie hören, ist ein Jude, der endlich so klingt wie sie. Den sie verstehen, der relatable ist. Eben WEIL er aus der Sozialisation heraus einer von ihnen ist. Konversion ändert Habitus nicht, ändert Selbstverständlichkeiten und Entitelment nicht. Gleichzeitig wird es unmöglich diese Menschen outzucallen. Eben weil Jüd_innen ohne Konversionshintergrund in der viel fragileren gesellschaftlichen Position sind. Sie sind in Marginalisierung aufgewachsen, sie sind für wc-Deutsche im Zweifelsfall keine Identifikationsfläche, im Zweifelsfall sind die Repressionen ihnen gegenüber viel größer, die Solidarität von wc-Deutschen mit dem, was ihnen bekannt vorkommt viel selbstverständlicher, das Selbstbewusstsein und das Entitelment von Menschen die als Teil der Mehrheitsgesellschaft aufgewachsen sind, viel unerschütterlicher. Weil so eben Dominanzkultur funktioniert. Oft sind es weiße, christlich sozialisierte cis Typen, die ihre Konversion verschweigen und als „Berufsjuden“¹ Diskurse dominieren und für die Erfahrungen anderer bezahlt werden, Platz in Zeitungen bekommen, Renommee erlangen, von der Arbeit und der Diskriminierung anderer profitieren. Und wir wissen alle: die einzigen, die weiße, christliche-sozialisierte cis Dudes outcallen können, ohne selbst schaden zu nehmen, sind weiße, christliche-sozialisierte cis Dudes. Die Ausbeute unserer Geschichten, unserer Erfahrungen und unseres Schmerzes wird also wahrscheinlich so schnell kein Ende haben… Applaus für falsche Helden.
¹Ich bezeichne mich selbst auch oft scherzhaft als „Berufsjüdin“. Gemeint ist als jüdische Person zu jüdischen Themen zu arbeiten und eigene Realität und Bildungs-/Interventionsauftrag miteinander zu verknüpfen.