Wenn die Intersektion von Ableismus und Sexismus allen ins Gesicht schreit

Und es niemand zu merken scheint. Ich meine well, nicht niemand. Ich bin mir sicher viele behinderte Menschen, die keine cis Typen sind, stellen gerade fest, wie wenig bei all der Aufregung wirklich bei den Empörten ankommt. Halten wir fest: Womöglich hat ein Mann sich jahrelang als querschnittsgelähmte Frau ausgegeben. Das ganze mit homoerotischem Anstrich und viel Anspruch darauf zu erzählen, wie es wirklich ist. Die eine Hälfte der Empörten vergisst dabei einen wichtigen Fakt:

M, der Mann der den Vermutungen nach hinter der Jule steckt ist selbst im Rollstuhl. Würde das die Fetischisierung und Vereinahmung der Realität behinderter Frauen entschuldigen? Nein! Ist es relevant? Ja! Weil genau da fängt Intersektionalität an. Zu sehen, dass es einen Unterscheid macht, ob ein Mann oder eine Frau diese Geschichten erzählt. Nicht weil „Frauen mehr Mitleid erhalten“ wie so oft behauptet wurde, sondern weil behinderte Frauen andere Erfahrungen machen als behinderte Männer. Genauso wie behinderte cis Personen andere Erfahrungen machen, als behinderte trans Personen. Und – das führt mich zu meinem nächsten Punkt: behinderte Lesben andere Erfahrungen machen, als behinderte hetero Frauen. So vieles was in Jules Geschichten passiert ist so unfassbar sexistisch. Und Fake oder nicht: wen das nicht gestört hat und beschlossen hat, dass das nice Unterhaltung oder endlich guter Krüppel-Content ist, hat ganz andere Probleme, als womöglich einem Fake-Profil aufgesessen zu sein. Das gleiche gilt für die softporn-artigen „homoerotischen“ Verzierungen. Es ist wir jeder Porno ever, in dem Heten Lesben für andere Heten spielen und glauben so sähe lesbisches Begehren aus. Und nochmal: wer bei dieser Fetischisierung und Stereotypisierung von „homoerotischen“ Anspielungen nicht entfolgt ist, hat andere Probleme, als womöglich auf einen Fake reingefallen zu sein. Die Art und Weise, wie über behinderte Frauen geschrieben wurde, hätte spätestens JETZT eine Debatte über die Intersektion von Sexismus und Ableismus und Heterosexismus auslösen müssen. Hat es aber nicht. Denn stattdessen sind alle zu beschäftigt entsetzt die Hände zusammenzuschlagen. Warum sollten nicht-behinderte Menschen auch ERNSTHAFT etwas aus diesem ganzen Chaos mitzunehmen, das ihre Perspektive auf behinderte Realitäten schärft. Wäre das jemals in ihrem Interesse gewesen, wäre ihnen vielleicht die fehlende/geringe Interaktion mit anderen Krüppel-Accounts aufgefallen. Schon das hätte viel aussagen können… Well, Konsum für’s eigene Gewissen ist eben nur dann geil, wenn es nicht zu komplex wird.


Aber zurück zu M. und was es bedeuten könnte, wenn alle mal von ihrem Enthüllungsporn aufblicken würden und ernsthaftes Interesse an den Folgen für behinderte Frauen hätten: Es ist wichtig, dass M., der mutmaßliche Autor hinter Jule im Rollstuhl sitzt, weil es nicht nur die Debatte darüber öffnen könnte, dass es selbstverständlich auch Sexismus innerhalb von Communities gibt, sondern auch, was die kontinuierliche Erzählung von einer Geschlechtslosigkeit von behinderten Menschen, normalisierte Entsexualisierung und normalisierte Eingriffe in unsere Intimsphäre, Infantiliesierung und Normalisierung von Übergriffen zu so einem Phänomen beiträgt. Es hätte in den sozialen Medianen einen Diskurs darüber entfachen müssen, warum ein Produkt, dass so deutlich und aus Überzeugung eine Poster-Version der Verschränkung von Sexismus, Ableismus und Heterosexismus salonfähig macht, so großen Anklang findet. Wohl gemerkt bei überwiegend nicht-behindertem Publikum. Beiträge hätten nicht gesichert werden müssen, um jeden kleinen Widerspruch aufzuzeigen, um sich feiern zu lassen, wer am besten Detektiv*in spielen kann, sondern um an diesem krassen Beispiel aus über 10 Jahren eine diskursanalythische Lehre zu ziehen. Als Lehrmaterial, für Theoriebildung, für Aktivismus, zur Selbstreflexion, aber nicht als Sensationspuzzle.

Alle, die jetzt empört sind, sollten sich solidarisch mit behinderten Frauen, Queers, behinderten trans Personen und behinderten nichtbinären Personen stellen, statt ihre Energie und Ressourcen in die Euphorie ihrer Ich-bezogenen Entrüstung zu buttern. Es sollte zu mehr Sichtbarkeit anderer starker behinderter (nicht cis männlicher ) Stimmen führen. Und dazu gemeinsam gegen jene zu stehen, die versuchen den ganzen Rummel gegen Selbstbestimmungsgesetze zu missbrauchen. Sollte Jule ein erfundener Charakter von einem Mann im Rollstuhl sein, dann nicht, weil „Frauen sympathischer sind“ oder „besser zugehört wird“. Das können wirklich nur cis Typen glauben! Sondern aus behindertenfeindlichen Sexismus heraus! Wenn Jule Stinkesocke ein Fake ist, dann schadet das nicht nur behinderten Menschen. Es schadet ganz besonders behinderten Frauen. Der größte Skandal ist nicht, dass Jule womöglich nicht echt ist. Der größte Skandal wird sein, wenn niemand die Chance genutzt hat sich selbst zu reflektieren und behinderte Frauen, Queers, behinderte trans Menschen und behinderte nichtbinäre Personen am Ende mit den Trümmern Eurer betrogenen Egos dastehen. Und das ist dann nicht Jules oder M.s Schuld. Sondern ganz allein Euch vorzuwerfen, deren Interesse eben Attraktionsgier ist und immer war und nie die Solidarität mit uns. Denn ihr könntet Euch entscheiden mit uns die Scherben aufzulesen, die Jule hinterlassen hat. Stattdessen lasst ihr uns mit den Trümmern zurück, wenn ihr fertig mit toben, stieren und sezieren seid. Es geht um Eure Unterhaltung, nicht um Sensibilisierung. Deswegen war Jule ein Erfolg. Immerhin ist das jetzt geklärt.