Erzogen wie Elefanten – Die Narrative unserer Familien

„Deine Mutter wollte eigentlich einen Sohn. Deswegen hat sie versucht, dich zu einem Jungen zu machen“, „Deine Mutter hat sich selbst und deswegen alle Frauen gehasst, deswegen hat sie dich wie einen Jungen angezogen“, „Deine Mutter konnte dich nicht Mädchen sein lassen, weil sie eigentlich einen Jungen, einen Mann in ihrem Leben wollte.“

Irgendwann werde ich mal einen Artikel darüber schreiben, warum Esos, die glauben, den Schlüssel zur Welt zu haben, ein Problem sind. Aber das ist nicht dieser Text. In diesem Text geht es darum, wie sehr wir die Geschichten über unsere Verwandten glauben, während wir aufwachsen, und wie schwer es ist, diese am Ende zu entschlüsseln.

Irgendwann werde ich mal einen Artikel darüber schreiben, warum Esos, die glauben, den Schlüssel zur Welt zu haben, ein Problem sind. Aber das ist nicht dieser Text. In diesem Text geht es darum, wie sehr wir die Geschichten über unsere Verwandten glauben, während wir aufwachsen, und wie schwer es ist, diese am Ende zu entschlüsseln.

Ich hatte kurze Haare als Kind. Trug vor allem Hosen. Meistens Grün oder Orange. Meine Schultasche hatte groteske gezeichnete Hasen drauf und war braun. Ich besaß keine rosafarbenen oder glitzernden Klamotten, keine Pferdchenpullis, keine mit süßen, weißen Häschen. Ich sah immer anders aus als die anderen Kinder. Zumindest eine Zeit lang. Bei meinen Großeltern trug ich NUR Kleider und meine kurzen Haare wurden zu zwei stummeligen kleinen Zöpfen auf meinem Kopf zusammengebunden.
Doch zurück zu den Hosen und Farben und kurzen Haaren: Ich hätte darüber wahrscheinlich nie nachgedacht – und das obwohl ich dann später schon mitbekommen habe, dass die Garderobe meiner 2,5 Jahre jüngeren (Pflege-)Schwester sehr anders aussah als meine –, wenn es nicht von außen problematisiert worden wäre. Ich gehöre allerdings auch noch zu dem Jahrgang, bei dem der Rosawahn für Mädchen gerade erst anfing und beispielsweise Schultaschen ganz heftig gegendert waren (danke Scout), aber zumindest in dem Kaff, in dem ich gelebt habe, bei Kleidung noch eine gewisse Toleranzspanne herrschte.

Meine Pflegemutter glaubt bis heute, sie hätte mich vor dem gefährlichen Einfluss meiner Mutter gerettet. Durch sie bin ich aufgewachsen mit den Erzählungen von einer Frau, die mich in das Leben eines Jungen hatte zwingen wollen, weil sie „psychisch krank“ war. Ich musste fast 30 werden, um diese angeblichen Motive meiner Mutter infrage zu stellen. Ich musste alte Freund*innen meiner Mutter ausfindig machen, um ihre Sicht auf meine Mutter zu hören.  Sie beschrieben sie als „nonkonform“, „kritisch“, „unangepasst“ (im positiven Sinne). Und plötzlich dann die Frage in meinem Kopf: War meine Mutter Feministin? Ich erinnere mich an Diskussionen, dass ich zu Fasching Prinzessin sein wollte und meine Mutter meinte, wir fänden auch was anderes Cooles. An möglichst „genderneutrale“ Kleidung, Schultaschen, Spielzeuge und Kinderbücher. Ich bekam mein erstes Werkzeug mit sechs, mit sieben meinen ersten Akkuschrauber. Ich bekam aber auch Puppen. Ich habe mit meiner Mutter die Elektrik in meinem Puppenhaus verlegt. Meine Mutter hat versucht durchzusetzen, dass ich in den Werkunterricht UND den Handarbeitsunterricht darf, wenn ich das möchte (und ich wollte, durfte aber nicht). 

Es war ein Aha-Moment in diesem Jahr, als ich plötzlich den Gedanken hatte, dass es meiner Mutter vielleicht nie darum ging, mich „zu einem Jungen zu machen“ (vor allem weil es sich auch nie so angefühlt hat), sondern darum, mich möglichst genderneutral und mit möglichst vielen Möglichkeiten entscheiden zu lassen, wer ich sein und was ich können möchte. Es war der Blick meiner Pflegemutter, der daraus ein Problem gemacht hat. Sie hat daraus eine Geschichte von Krankheit und Zwang und Unfreiheit gemacht.

Ich bin inzwischen davon überzeugt, dass meine Mutter Feministin war und versucht hat, mich feministisch zu erziehen. Mir Alternativen aufzuzeigen zu dem, was von mir als Mädchen scheinbar erwartet wird. Plötzlich fügt sich vieles in meinem Kopf zusammen, was mit der Erzählung einer „gestörten“ Mutter, die mich zu einem Jungen machen wollte, zusammenhangslos, lose und schief erschien. Ich habe die Geschichte nicht gefühlt, aber geglaubt. Auch noch, als ich anfing, mich mit feministischen Debatten auseinanderzusetzen. Auch noch, als ich bereits selbst flammende Feministin war. Auch noch, als ich anfing, mich mit Leben mit Kindern und Feminismus auseinanderzusetzen. Ich habe es geglaubt, weil es sich durch die repetitive Erzählung meiner Pflegemutter in mein Selbstbild, in meine Geschichte gepflanzt und wie ein feines Netz über mein Bild von meiner Mutter gelegt hat. Weil ich geglaubt habe, dass es die Erwachsenen besser wüssten als ich. Obwohl sich diese Erzählungen nicht wirklich falsch angefühlt haben, weil sie von einer erwachsenen Person kamen, hatte ich immer das Gefühl, dass sie nicht viel mit mir zu tun haben. Selbst als ich irgendwann anfing, sie selber zu wiederholen. Es war eine Geschichte. Aber nicht meine, obwohl ich sie dafür hielt.

In den letzten Jahren sind mir etliche Erzählungen über meine Familie begegnet, die ich durch die Wiederholungen und die Art und Weise, wie und von wem sie erzählt wurden, für objektive Wiedergaben von (Familien-)Geschichte gehalten habe und plötzlich wurde mir klar: Vielleicht sieht die „Wahrheit“ ein bisschen anders aus. Wir wachsen mit Geschichten unserer Angehörigen und der Menschen um uns herum auf, mit Bildern von anderen gezeichnet. Mit Narrativen und Erzählungen, die oft viel mehr über die Person aussagen, die sie erzählt, als über die, von denen gesprochen wird. Und weil diese Geschichten Teil unserer inneren Familienchronik werden, weil sie immer da waren, glauben wir sie auch noch, wenn wir alles andere da draußen schon dekonstruiert und entschlüsselt haben. Glauben diese Geschichten viel länger als all die anderen patriarchalen, rassistischen, antisemitischen, ableistischen, hetero- und cisnormativen Märchen, die wir sonst so hören, obwohl wir es besser wissen müssten. Weil es dauert, bis wir in der Lage sind, unseren queeren, feministischen, linken, kritischen Blick auf das zu richten, was immer schon vor uns lag und Teil unserer Familienwahrheit geworden ist. Und plötzlich ist die eigene Mutter Feministin und die Großmutter Lesbe und alles ergibt Sinn, was sich vorher wie eine schiefe Wahrheit angefühlt hat. Wir sind erzogen wie Elefanten. 

1)Elefanten in Gefangenschaft bekommen, wenn sie klein sind, schwere Ketten um ihr Fußgelenk und lernen so, dass sie nicht fortkommen, wenn sie festgebunden sind. Wenn diese Elefanten dann erwachsen sind, reicht ein Bindfaden um ihren Fuß, um sie anzubinden, weil ihre Erfahrungen als kleine Elefanten der Wahrheit der Gegenwart trotzen.

Zunächst erschienen beim Missy Magazine

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