Die Geschichten unserer Familien

Liebe (wc*-deutsche) Leser_innen, falls Ihr gehofft hattet, dass dies endlich der Artikel ist, in dem ich über die tragische Fluchtgeschichte meiner Familie aus NS-Deutschland schreibe, berichte wie sie ums Leben gekämpft und schließlich überlebt haben, dann lest weiter, denn dieser Artikel ist für Euch.
Eigentlich ist es schon fast eine Zumutung, dass ich das bisher nicht getan habe, denn als deutsche Jüdin, aus einer jüdisch-deutschen Familie, gehört meine Familiengeschichte ja genaugenommen zum Allgemeingut. Es ist Euer Recht alles über sie zu erfahren und meine Pflicht es mit Euch zu teilen. Ob Privatpersonen die mich seit 5 Minuten kennen oder Journalist_innen, es ist eine Selbstverständlichkeit mich danach zu fragen. Es ist kein Problem sich bei der ersten Begegnung an den Kaffeetisch meiner Großtante zu setzten und zu fragen, wie sie es eigentlich aus Deutschland rausgeschafft haben. Es ist Teil des Geschichtsunterrichts mich auszufragen. Privatsphäre ist kein jüdisches Privileg, zumindest nicht, wenn es um unsere Familien geht.
Ich habe noch nie erlebt, dass wc-deutsche mal so eben von Unbekannten nach der Familiengeschichte und dem Familienleben vor und nach 1945 gefragt wurden. Ich möchte eigentlich gerne irgendwann mal bei wc-deutschen zu einem Familienessen eingeladen sein und während des peinlichen Smalltalks am Esstisch ganz selbstverständlich nach dem Leben in Nazi-Deutschland fragen. Genauso selbstverständlich wie ich das gefragt werde. Ich möchte jemandem die Hand schütteln und sagen „Ah, Du trägst keinen Davidstern! Ich würde ja gerne mehr über Deine Familiengeschichte hören! Wie habt ihr es geschafft in Deutschland zu überleben?“ Ich glaube der Schock und die Entrüstung wären groß.
Unsere Familiengeschichten dagegen gehören zu den spannenden Schauermärchen, die immer und immer wieder gehört werden wollen. Dass das Trauma und das Leid dahinter echt sind, dass es dabei um das Leben von echten Menschen, von meinen Angehörigen, um IHRE Geschichten geht, bleibt unbegriffen. Es scheint als verstünden linke Schicksalsvoyeurist_innen einfach nicht den Unterschied zwischen grimmschen Märchen und jüdischen Familienbiographien. Die Lebensgeschichte meiner Familienmitglieder ist keine Phönix-Dokumantation, sie ist kein Konsumgut, sie dient nicht zur Eurer Unterhaltung und sollte nichts sein, wonach ihr selbstverständlich einfach mal fragt. Es sind keine Geschichten, die mit „Es war einmal“ beginnen und Euch eine schaurig-süße Gänsehaut verpassen. Sie sind der Grund, warum Generationen von uns Alpträume haben und schreiend aufwachen, warum unsere Familien von Tod und Zerstörung geprägt sind. And guess what, die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass Eure Familien etwas damit zu tun hatten. Ich bin kein Unterhaltungsprogramm und Eure Familiengeschichte keine Privatsache.
Ich habe lange nicht verstanden, dass es nicht meine Pflicht ist diese Infos selbstverständlich zu verteilen, dass das Leute nicht zwingend was angeht, nur weil sie es wissen wollen, dass ich der Anspruchshaltung nicht gerecht werden muss, dass mein Familienleben privat sein darf. Ich möchte kein Teil dieses Gedenktheaters mehr sein. Und ginge es um eine ernstgemeinste Auseinandersetzung bräuchtet ihr meine Familiengeschichte ohnehin nicht. Also für die Zukunft wird die Geschichte des Überlebens meiner Familie nun folgendermaßen lauten und ich weiß ihr werdet es hassen:
Sie sind 19hundert-das-geht-Euch-nichts-an nach das-geht-Euch-nichts-an um dann nach das-geht-Euch-nichts-an zu gehen
19hundert-das-geht-Euch-nichts-an ist dann mein das-geht-Euch-nichts-an nach es-geht-euch-nichts-an…
Und weil manche von ihnen nicht von Euren Verwandten ermordet wurden, leben sie noch heute. Ende.
 

  • wc = weiß und christlich sozialisiert

2 Gedanken zu „Die Geschichten unserer Familien

  1. Ich muss sagen, ich (Jüdin) mache das mittlerweile; Leute fragen: Und, was hat Ihre Familie im Krieg gemacht? Schockierenderweise haben viele da große Wissenslücken, manche sagen, sie haben nachgeforscht, konnten aber nichts finden, manche erzählen von den Täter_innen in ihrer Familie und es folgt ein hilfloses, ratloses Schweigen. Es gab noch nie ungute Reaktionen, aber ich frage meistens auch Leute, die eh nett sind. Umgekehrt frage ich auch Jüdinnen_Juden, ob ich sie lang oder kurz kenne, wie ihre Familien überlebt haben – meistens aus dem wunderstaundenden, kraftfreudigen Gefühl heraus „Wie zum Geier haben die das Unglaubliche geschafft und überlebt, sodass wir uns jetzt unterhalten können?“.

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