„Was wäre wenn…“ ist ein Spiel , das ich früher bis zum Erbrechen gespielt habe. In den letzten Jahren ist es weniger geworden.
Was wäre wenn die Dinge anders gelaufen wären? Was wäre wenn ich weniger Ressourcen zum Überleben hätte aufwenden müssen. Wenn mein Alltag und mein Leben anders verlaufen wären. Dabei geht es nicht um eine Neuerfindung meine gesamten Biographie. Es geht um einen bestimmten Teil. Die ersten neun Jahre meines Lebens waren in einem Akademikerinnen-Haushalt. Es gab Bücher über Bücher über Bücher. Alte mit Goldrand, mit Ledereinband, dicke, dünne, welche mit schwierigen Titeln und Autor_innen, die ich bis heute nicht aussprechen kann. Ich hatte Musikunterricht. Überall waren die Noten meiner Mutter – Flötistin. Aber ich weiß und wusste sie spielte auch Geige und Cello. Sie konnte Englisch, Französisch, Hebräisch, Italienisch, Altgriechisch und Dänisch. Ihre Mutter war eine der ersten Doktorandinnen der Physik in Deutschland. Meine Mutter verstand Musik (und Noten), las Marx, kannte sich in jüdischen Schriften aus, studierte erfolgreich, schrieb an Büchern mit und wurde in anderen zitiert. Wenn mensch meine Mutter googelt, ist mehr inhaltlich wertvolles zu finden, als über mich und das obwohl meine Mutter 1998 starb. Da gab es die Suchmaschine zwar schon, aber das Internet war noch jung und google erstrecht. Ich war neun, als meine Mutter starb. Ich konnte weite Teile der Biographien von Händel, Mozart und Bach (Johann Sebastian) auswendig (dank kindergerechter Kassetten für Bildungshaushalte), meine Lieblingskassette war die Zauberflöte, ich lernte Hebräisch zu lesen und zu schreiben (und war gar nicht schlecht), ich konnte eine Quinte von einer Terz unterscheiden (heute muss ich googeln, ob ich Terz überhaupt richtig geschrieben habe und mit Quinte das meine, was ich glaube zu meinen).
In meiner Vorstellung geht diese Geschichte folgendermaßen weiter: Meine Mutter bleibt am Leben. Ich habe weiterhin Zugang zu bildungsbürgerlichen Ressourcen, wie heute zu Gummibärchen. Ich lebe immer noch in Baden-Württemberg und mein Leben ist zwar anstrengend, aber okay. Ich mache selbstverständlich Abitur, studiere (wenn es nach meiner Mutter gegangen wäre wahrscheinlich Musik), mache diverse Abschlüsse. Ich versuche hetero zu leben, vielleicht scheitere ich und habe ein Comming Out, vielleicht bleibe ich unglücklich, das halte ich für wahrscheinlicher. Schon allein, damit ich etwas habe, dass mir zusätzlich Sicherheit darin gibt, dass mein tatsächliches Leben gut so ist, wie es jetzt ist. Ich wäre nicht queer. Vielleicht würde ich mich für politisch halten, weil ich zu Lesungen gehe und die Linke wähle, aber wahrscheinlich würde ich meine Komfort-Zone nicht verlassen. Die „Was wäre wenn…“ Geschichte hat kein besseres Ende, aber vielleicht ein gesellschaftlich anerkannteres und manchmal sehne ich mich in diese Welt. Ich vermisse das Gefühl anerkanntes Wissen wie Popcorn zu futtern, weil es möglich ist. Weil es da ist. Weil es mir selbstverständlich zusteht. Mit neun kam der Break. Alles davon war weg. Neun (Lebens)Jahre ist ein Witz, wenn es um Wissen geht. Es reicht vielleicht in manchen Hinsichten für eine Grundhaltung im Leben (ich hab die Arroganz behalten und eine Idee von Leistung und Intellekt, die mich selbst anwidert und gleichermaßen Sehnsucht bleibt), aber mehr auch nicht. Das alles hat nicht mehr viel mit meinem Leben zu tun. Andere Sachen wurden wichtig: Nicht unterkriegen lassen, irgendwo regelmäßig Essen (her)bekommen, nicht untergehen, nicht verzweifeln, ausreichend Kleidung haben, die auch passt, wissen wo ich schlafen kann, nichts anmerken lassen, nicht verrückt werden, nicht sterben aus 1000 verschiedenen Gründen.
Ich habe das „Was wäre wenn…“ Spiel irgendwann sein lassen können. Ich weiß, dass ich Zugang zu einer Menge Ressourcen habe, dass ich in vielerlei Hinsicht privilegiert bin. Ich mag mein Leben in diesem Universum (meistens) und habe eingesehen, dass ich die Sprache des Paralleluniversums aus dem ich komme nicht mehr spreche, nicht mehr verstehe. Vielleicht manchmal auf dem Niveau einer 9jährigen, aber das zählt nicht – ich bin 27…
Jetzt wo ich an der HU studiere, spüre ich diese Zerissenheit jedoch wieder häufiger. Ich fühle mich fremd, fehl am Platz, habe Angst als Hochstaplerin aufzufliegen. Ich verstehe die meisten dort nicht, bis auf wenige Ausnahmen. Immerhin habe ich das Gefühl ich kann L. fragen, ohne mir die Blöße geben zu müssen. Das hilft. Danke L! M unterstützt mich auf ihre Weise. Ich HABE Ressourcen und Menschen, die mich unterstützen – auch im Uni-Kontext, das ist ein Privileg und das weiß ich. Ich weiß auch, dass ich oft passe und ich im ersten Moment selten in diesen Räumen in Frage gestellt werden. Im übrigen wird von mir als Jüdin ohnehin erwartet Teil einer intellektuellen Avangard zu sein, feingeistig und scharfsinnig. Trotzdem habe ich in den wenigen Wochen, die ich studiert habe, bevor ich den Unfall hatte, jeden Tag geweint. Ich hab mich dumm und einfältig gefühlt. Und wieder angefangen das „Was wäre wenn…“ Spiel zu spielen. Aber das ändert ja leider nichts an der Realität.
Ich hab mir interessanter Weise trotzdem in den Kopf gesetzt zu promovieren. Manchmal muss ich deswegen selbst über mich lachen. Ich hab nämlich eigentlich keine Ahnung was das genau bedeutet, bzw. wie das geht. Aber ich mag die Idee von mir als Professorin. Forschen und Lehren zum Que(e)rschnitt von jüdischer Philosophie und Queerer Theorie/Praxis. Und dazu brauch ich das. Das fühlt sich logisch an. Es ist also doch noch was von der Parallel-Debs übrig – offensichtlich.
Und doch holt mich das „Was wäre wenn…“ immer wieder ein.
Schöne Dinge werden so kompliziert, hinterlassen einen Nachgeschmack von Blech und Scham in meinem Mund. Ich war gestern in der Philharmonie, ich wurde eingeladen. Ich mochte beides sehr gern, die Musik und den Menschen, aber ich konnte mich auf beide_s kaum konzentrieren. Ich hatte das Gefühl Codes dechiffrieren zu müssen um nicht aus der Rolle zu fallen, als wären alle meine Universen aufeinander geprallt, als wäre ich Zeitreisende, verloren in einem Wurmloch. Es ist nicht so, dass es das erste Mal seit 18 Jahren gewesen wäre, dass ich ein Konzert besucht habe und ich kenne das Gefühl mich bei solchen Events verloren zu fühlen. Es ist das „Was wäre wenn..“, dass mir die Konzentration und das Gefühl für die Gegenwart raubt, den Schwindel verursacht. Ich mag den Menschen, der neben mir sitzt. Er ist nett und witzig und dieses Lächeln… naja andere Geschichte! Und obwohl es ziemlich eindeutig seine Welt ist, in der wir uns befinden, ist es nicht er, der mir das Gefühl gibt eine falsche, eine schlechter Version meiner selbst zu sein (das gab es schließlich auch schon). Es ist nicht sein Leben, seine Biographie, sein Werdegang oder dass er sich hier mit einer scheinbaren Selbstverständlichkeit bewegt, die ich eigentlich auch nur unterstelle. Es ist nicht ein subtiles Gefälle zwischen uns, dass mich wortlos macht. Es ist eine Mischung aus einem neuen „Was wäre wenn“ und spontaner Selbstentwertung. Denn vielleicht gibt es kein eindeutiges entweder oder… Vielleicht hätte ich auch in der Parallelwelt Feministin, Lesbe, queer, radikal, kompromisslos, stark, kritisch, von Heten genervt und (un)zufrieden sein können und würde trotzdem in der Philharmonie sitzen und verstehen und genießen können. Würde nicht dasitzen und denken, bitte, bitte frag mich nicht, wie es mir gefallen hat, sondern hätte eine Sprache um darauf zu antworten. Ich fühle mich wortlos und awkward. Und je mehr mich dieses Gefühl überflutet, desto awkwarder werd ich tatsächlich. Ich verabschiede mich nicht einmal richtig und sitze dann Zuhause – mit meinem „Was wäre wenn…“. Ich fühle mich schlecht das zu denken, denn die Menschen, die mich danach beim Aufwachsen begleitet haben, haben mir viel mitgegeben, wenn auch anderes. Sie lieben mich. Und absurder Weise gehen auch sie in Konzerte und ins Theater und trotzdem bewerte ich ihre Präsenz dort anders. Ich hau uns allen einmal die klassistische Keule über den Kopf, weil ich nicht klar komme. Ich spüre wie die Tränen von Selbstverachtung und Trauer und Wut und dem Gefühl das ALLES so wahnsinnig unfair ist, über meine Wangen rollen. Ich kann nicht schlafen, weil ich plötzlich wieder über mich als „verschenktes Potential“ nachdenke. Weil ich denke, dass nur die Blechversion von mir übrig geblieben ist, die ich regelmäßig wieder hübsch anmale, damit die Farbe nicht abblättert. Weil ich das Gefühl habe ich bin eine Heuchlerin und werde auffliegen. Leute werden in der Philharmonie, der Uni, der Arbeit mit dem unausgestreckten Finger auf mich zeigen und lachen, schreien, mich bemitleiden, denn es ist eine neunjährige in dem Körper einer 27jährigen (kulturell ‚zurückgeblieben‘ (sic!)), peinlich berührt sein, mich für dumm und töricht halten. Ich fühl mich faulig und und wertlos. „Was wäre wenn…“ ist nicht einfach nur ein harmloses (Gedanken)Spiel, es ist (m)ein Werkzeug zur Selbstentwertung. Es ist mein gesellschaftlicher (Zerr-)Spiegel. Es ist eine Sehnsucht, Selbstverletzung und Ausdruck dessen, dass die ersten neun Lebensjahre eben noch nicht viel über unsere gesellschaftliche Stellung und und unsere Privilegien aussagen, sondern, dass sie Teil unserer Politik mir Widersprüchen sind/sein müssen. Ich bin nicht von Klassismus betroffen, behaupte ich nach wie vor. Aber was wäre wenn ich trotzdem nicht privilegiert bin. „Was wäre wenn…“ Monologe einer Zeitreisenden.